„Ich denke schon, dass die Liebe überwiegt. Vielleicht. Sonst wäre das doch irgendwie traurig“
Er wrang die Worte aus sich heraus und zerfloss zu einer kleinen Pfütze. Verstohlen blickte Kapotschka sich um und hoffte, dass das niemand gesehen hatte. Sie trat an die nassen Reste Hoffnung die er hinterlassen hatte und sah erschrocken ihr eigenes Spiegelbild darin. Heimlich wischte sie es mit ihrem Schal auf und ging um ihn in der Sonne aufzuhängen. Sie saß im Hinterhof und dachte, dass viele Menschen den Stadtpark, den botanischen Garten, den Kemnader See, oder die Ruhr liebten. Da, wo es grün war und Wasser gab schien es den Menschen gut zu gehen. Einer hatte gesagt: „Die Natur hilft den Menschen liebevoller zu sein.“, eine Andere hatte gelacht als sie erklärte: „Wir kommen doch aus der Natur – natürlich lieben wir sie.“ Kapotschka blickte auf die Mauern und Fenster und die Mülltonnen und fragte sich, wieso die Menschen sich so blöd organisierten, wenn sie doch so gut Bescheid wussten. Kapotschka hatte von ihnen gelernt, dass grün die Farbe des Herzchakras war und somit das Aufhalten an grünen Orten dem Herzen guttut. Sie hatten ihr erzählt, dass tiefes atmen gelassener machte und eine Umarmung von mindestens 10 Sekunden Hormone ausschüttet, die glücklich machen. Eine Person hatte die Idee Politiker*innen sollten sich vor ihren Sitzungen umarmen und eine andere Person überlegte, was für Effekte es haben könnte, wenn sich alle Menschen auf der Welt gleichzeitig umarmen würden. Kapotschka blickte auf den Schal der in der Sonne hing und ging zu ihm hin um ihn zu umarmen. Schals umarmen ist seltsam und es passierte nichts.
Da flatterte ein Telegram vom Realitätssinn vorbei, der schrieb: „Komm in den Botanischen Garten!“ Sie legte sich den nassen Schal um und machte sich auf den Weg. Im Botanischen Garten fand sie den Realitätssinn nicht. Der hatte nicht gesagt, wo genau er zu finden war und erfreute sich bestimmt über Pflanzen aus dem Himalaya, oder dergleichen. Kapotschka ging ins Tropenhaus. Dort war ein kleines betoniertes Tümpelbecken auf dessen Mäuerchen eine Schildkröte lag. „Hervorragend“ dachte Kapotschka, weil sie den Realitätssinn nicht finden konnte aber endlich mal mit jemandem reden wollte, die Ahnung von den Dingen hat. Sie setzte sich neben die Schildkröte und schilderte ihr die Situation: „Es ist so, dass ich dachte erkannt zu haben, dass Bochum eine Stadt der Liebe ist. Deshalb habe ich dieses Projekt angefangen um alle möglichen Leute dazu zu befragen. Mir wurde die Liebe auf viele Arten beschrieben und die Menschen haben ganz tolle Ideen, wie sie noch mehr werden könnte und was es dazu braucht. Wusstest du, dass Grün die Farbe vom Herzchakra ist? Das es sowas gibt! Und Umarmen Hormone ausschüttet. Ich sage dir die Menschen sind absolute Expert*innen. Aber warum ist die Welt denn dann so wie sie ist?“ Die Schildkröte schloss die Augen mit ihren Pergamentliedern. Kapotschka sah sie atmen und fragte sich kurz, ob sie der Schildkröte eigentlich irgendwas sagen musste, oder ob sie schon alles telepathisch erfasst hatte, was in ihr vorging. Weil sie sich nicht sicher war, redete sie lieber weiter. Es folgte ein Monolog in dem Kapotschka über das System, die Unterdrückung, den Kapitalismus verzweifelte, sich die Haare raufte, schnaufte, weinte, Vorwürfe in alle Richtungen schleuderte, seufzte und stöhnte. Als sie fertig war hatte die Schildkröte die Augen immernoch geschlossen. Sie schlief und der Schal war durchtränkt vom Pfützenrest und Kapotschkas Weltschmerz. Sie nahm ihn ab und legte ihn vor die Schildkröte mit einem Zettel: Bitte küssen! Vielleicht verwandeln sich mit Hoffnung und Weltschmerz getränkte Schals ja beim Küssen von Schildkröten in irgendwas. Wer weiß?
Kapotschka verließ das Tropenhaus und traf den Realitätssinn beim Kaffeeautomaten. „Du!“ sagte er fröhlich. „Ich hatte eine super Idee für dich! Vielleicht musst du zaubern lernen!“ Er verpuffte und hinterließ nichts als einen braunen Plastikbecher und eine Pfütze Schokochino. „Die wisch ich nicht auf“ sagte Kapotschka. Das heute alle zu Pfützen wurden und sie schon wieder diese pathetische Verzweiflungsnummer abgezogen hatte nervte sie sehr. Sie ging ins Tropenhaus zurück um sich bei der Schildkröte zu entschuldigen. Am Betontümpel angelangt fand sie die Schildkröte im Arm von Rilke, der ihr Gedichte vortrug.
„Hier muss sich nichts verändern, die Menschen müssen nur ihren Horizont erweitern“ hatte ihr Eine erzählt, die von oder trotz einer leidenschaftlichen Beziehung zu Dosenbier weise geworden war. Aber wie das ging hatte sie nicht verraten. Kapotschkaging los und suchte den Horizont, aber der war gerade mit Häusern verstellt. In einem der Häuser steckte ein Sofa hochkant in der Tür. „Kann ich ihnen helfen?“ rief sie durch das weiße Kunstleder. „Ja, bitte“ rief es von der anderen Seite. Und so schleppte Kapotschka ein Sofa in den dritten Stock. Schwitzend und stöhnend blickte sie aus dem Fenster im Treppenhaus und sah sehr sehr weit.